Heike Ehrlicher, Direktorin der Geschäftsstelle Bibliosuisse, sieht sich als "Ermöglicherin".

Eine offen kommunizierende Verbandsdirektorin über ihre Führungsgrundsätze, in denen auch Emotionen Platz haben.

Für Heike Ehrlicher soll Bibliosuisse Identifikation stiften.

Heike Ehrlicher
Heike Ehrlicher

Welche Ziele hast du dir für dieses Gespräch gesetzt?
Ich möchte vermitteln, was ich im Moment unter meiner Führungsrolle verstehe und wie ich die Zusammenarbeit im Team sehe. Das kann und wird sich durchaus noch ändern.
Als persönliches Ziel des Gesprächs wünsche ich mir eine Form der Selbstreflexion.

Wie heisst deine genaue Funktion / wo / seit wann? / wie viele Mitarbeitende führst du? / wem bist du unterstellt?
Ich bin seit Dezember 2021 Direktorin von Bibliosuisse. Bibliosuisse ist der nationale Verband der Bibliotheken und Informationseinrichtungen in allen Landesteilen*. Verband bedeutet: ich bin für die operative und der Vorstand für die strategische Führung verantwortlich. Ich habe 5 Mitarbeitende und meine direkte Ansprechpartnerin ist die im Mai 2022 neu gewählte Präsidentin des Vorstands.

*https://bibliosuisse.ch/
Auszug aus den Statuten: „Der Verband Bibliosuisse ist die Stimme der Bibliotheken, Informations- und Dokumentationsstellen sowie ihres Personals in der Schweiz und vertritt deren Interessen und jene der Nutzerinnen und Nutzer gegenüber Politik und Gesellschaft. Er pflegt Kontakte zu anderen nationalen und internationalen Verbänden im selben Tätigkeitsbereich. Der Verband konzentriert sich auf die drei Bereiche Berufsbildung, Interessenvertretung und Kommunikation.“….

Wie bist du in die Führungsrolle gekommen? Hattest du das schon immer zum Ziel, seit du bei Bibliosuisse arbeitest?
In meinem früheren Berufsleben habe ich gerne in der zweiten Reihe gearbeitet, sofern ich autonom arbeiten und mich sowie meine Kompetenzen einbringen konnte. Daher habe ich die Führungsrolle nicht zwingend angestrebt, auch weil ich sah, dass Führung ein Stück weit einsam macht.
Die Situation bei Bibliosuisse war anders, weil ich mich in meiner heutigen Lebenssituation vollständig auf die Aufgabe konzentrieren kann und ich bereits 10 Jahre für den Verband tätig war. In dieser Zeit habe ich die Fusion der zwei früheren Verbände zu einem Verband begleitet und mir dabei ein umfassendes Netzwerk erarbeitet. Weiter war ich bereits zwei Jahre stellvertretende Geschäftsführerin. Von daher lag es auf der Hand, mich als Direktorin zu bewerben.

Führung kann einsam machen. Hattest du bereits einen Moment, den du so empfunden hast?
Am Anfang war es ungewohnt, Entscheidungen treffen zu müssen, die ich mit niemandem reflektieren konnte. Mitunter unbequeme Entscheidungen vor dem Team zu vertreten, ist eine neue Erfahrung und für mich ein Lernprozess.

Was war speziell an deinem Einstieg in die neue Funktion?
Ich habe mir im Vorfeld zahlreiche Gedanken zum Perspektivenwechsel gemacht, auch mit dem Blick der Teammitglieder. Erfahrung mit Führung hat jeder Mensch dadurch, dass er geführt wird. Literatur und eigene Erkenntnisse bekräftigen mich darin, so zu führen, wie ich es als aufbauend erlebe. Im Rahmen eines Professional Programms des Weltverbands nahm ich ein Coachingangebot wahr, das mich zusätzlich bestärkte.
Weiter habe ich mit allen Mitarbeitenden Einzelgespräche geführt, um ihre Erwartungen an mich abzuholen und ihnen meine Erwartungen an sie mitzugeben.

Würdest du Einzelgespräche mit Teammitgliedern bei Übernahme einer Führungsfunktion weiterempfehlen?
Ja, unbedingt! Folgende Grundsätze helfen: transparente Kommunikation und Offenheit, wobei letzteres nicht immer leicht, jedoch zielführend ist.

Wie beschreibst du deine Führungsgrundsätze?
Ich möchte jede Person im Team dazu befähigen, autonom zu arbeiten und ihre Kompetenzen (er)leben zu lassen, sodass sich dies in erfolgreicher Arbeit niederschlägt. Jede:r soll sich teamzugehörig fühlen, auch was den Verband betrifft. Ich betrachte die Arbeit des Vorstands und der Geschäftsstelle als gemeinsames Wirken.
Meine Führungsarbeit besteht laufend darin, mein Handeln zu reflektieren und Prozesse iterativ zu führen. Das ermöglicht eine Verlässlichkeit und Verbindlichkeit für die Mitarbeitenden in einer allgemein unsicheren Arbeitswelt. Die Bandbreite der Aufgaben und der dahinterliegenden Fragen ist immens.

Was sagst du über die Vision von Bibliosuisse (siehe Website Bibliosuisse)?
Das sind keine hohlen Worte. Wir wollen den Mitarbeitenden aller Bibliothekstypen, unseren Mitgliedern ermöglichen, Teil einer demokratischen, digitalisierten, integrativen und nachhaltigen Gesellschaft zu sein.
Mein Anspruch für die Geschäftsstelle ist eine hohe Dienstleistungsorientierung; der Verband ist für die Mitglieder da. Dazu braucht es Nähe zu den Mitgliedern vor Ort, um ihre Anliegen aufnehmen zu können. Zudem braucht es als nationaler Verband das Bewusstsein, bei der Kommunikation in verschiedenen Sprachen und damit einhergehender verschiedener Kulturen à jour zu sein und zu bleiben.

Wie lässt sich die Zukunft von Bibliotheken zusammenfassen?
Bibliotheken entwickeln sich in ihrem Auftrag seit geraumen Jahren stark weiter, wobei auch von «Bibliothek als dritter Ort» die Rede ist, d.h. die Bibliothek als zweites Wohnzimmer. Bibliotheken sind ein Verbindungsort zwischen Individualisierungs- und Zugehörigkeitswünschen der Menschen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Bildungsbereich inkl. interkultureller Bibliotheksarbeit.
Zur Zukunft der Bibliotheken könnte ich stundenlang sprechen.

Wie beschreibst du die Wertehaltung, die ihr im Team lebt und in den Verband tragt?
Der Verband soll Identifikation stiften, also das Gefühl von Zusammengehörigkeit einer Branche und jedes einzelnen Mitglieds. Stabilität und Sicherheit sind mir äusserst wichtig.
Das Mitglied soll zunächst mal mit jedem Anliegen an den Verband gelangen können.

Welches Aha-Erlebnis gab es in den letzten Monaten?
Die Teammitglieder unterscheiden sich nicht nur in ihren Funktionen, sondern auch in ihren Persönlichkeiten, das war mir klar. Daraus ergeben sich jedoch unterschiedliche Bedürfnisse, was wiederum ein adaptiertes Führungsverhalten bedingt.

Wie setzt du individuelle Führung um?
Das empfinde ich als grosse Herausforderung, u.a. aufgrund der Teilzeit Pensen. Ich spüre, dass eine gemeinsame Präsenz bei allen Vorteilen von Homeoffice notwendig ist. Wir halten eine Monatssitzung im Gesamtteam ab. Es gibt Mitarbeitende, für welche darüber hinaus ein häufiger bilateraler Austausch mit mir wichtig ist. Manche brauchen mehr Austausch, andere weniger. Ich als Führungsperson muss den Stand von Projekten trotzdem bewusst abholen und Feedback geben. Am Anfang habe ich den zeitlichen Aspekt individueller Führung unterschätzt. Für mich ist wichtig zu merken, in welchem Projektstatus ich welches Teammitglied miteinbeziehe.

Wie wichtig sind Gespür und Emotionen?
Die Emotionen sind äusserst wichtig, auch im Hinblick darauf, wie es den Teammitgliedern geht, auch privat. Das ist immer ein Teil dessen, was ich als Führungsperson im Auge haben muss. Emotionen sollen geäussert und am Schluss kanalisiert und zu etwas Konstruktivem geführt werden. Es braucht sowohl Raum, um Sorgen zu äussern oder Unmut loszuwerden, als auch zum Lachen.

Was machst du, wenn du eine negative Grundhaltung bemerkst?
Das spreche ich offen an und frage, woher diese negative Haltung kommt. In der Regel ist es nicht das, was an der Oberfläche sichtbar ist, sondern etwas dahinter Liegendes. Vielleicht ist es der Unmut über die finanzielle Honorierung oder eine fehlende Feedbackkultur. Wobei mir persönlich Feedback äusserst wichtig ist. Wenn ich konstruktiv Feedback geben will, muss ich mich in Themen vertiefen.
Auch Wertschätzung ist mir überaus wichtig.

Wie siehst du das Wort «Konfliktmanagement»?
Konflikte gehören genauso zur Führung wie Emotionen. Gerade Konfliktsituationen sind im ersten Moment nicht immer nur konstruktiv, sondern hochemotional und evtl. mit Frustrationen verbunden. Mir fällt kein Zacken aus der Krone, mich zu entschuldigen, wenn ich es als angebracht erachte. Wichtig ist zu spüren, wenn ein:e Mitarbeitende:r einfach mal «abladen» will. Danach hat Konstruktives wieder Platz. Ich bestärke meine Mitarbeitenden, frühzeitig auf mich zuzukommen, bevor der Kragen fast platzt.
Wichtig ist, dass am Schluss eines herausfordernden Gesprächs jede:r «den Kopf oben tragen» kann. Das ist für mich auch Teamentwicklung.

Wie gehst du mit Kontrolle um?
Das ist immer ein Austarieren und Einfordern. Und zwar weil ich von den Teammitgliedern erwarte abschätzen zu können, an welchem Punkt sie für eine Entscheidung zu mir kommen müssen. Ich mache die Erfahrung, dass dies individuelle, situative Führung erfordert.

Was macht dir am meisten Freude in der Führung?
Zu spüren und in einem Resultat zu sehen, dass ich Freiräume gebe, die Mitarbeitenden dort abhole, wo sie stehen und wir am Schluss etwas gemeinsam geleistet haben. Das macht mir enorm Freude! Auch inspirierend finde ich, miteinander Ideen für neue Projekte zu entwickeln und nachher ein Resultat davon zu sehen.

Was möchtest du hier unbedingt noch sagen?
Meine drei Grundsätze:
1. Wichtig ist, Vorbild zu sein. Was ich mir von Teammitgliedern wünsche, muss ich auch selbst
   leben.
2. Offen kommunizieren: aktiv zuhören, offene Fragen stellen und dem Gehörten Beachtung
   schenken.
3. Ich verstehe mich als «Ermöglicherin», d.h. ich möchte dem Team, dem Verband und somit auch
   den Mitgliedern ermöglichen, sich zu entfalten und mit Freude zu arbeiten.

Im Namen von ottpunkt AG danken wir herzlich für dieses Gespräch!

Interview: Erika Rihner, Visual & Outdoor-Coach, Teamentwicklerin